Etappe 4: Von grandpa über Esel zur Waschmaschine
Trotz der durchgelegenen Matratze war die Nacht in Ordnung. So wie man wohl in einem vollbesetzten Schlafsaal schläft. Nachdem ich mich halb im Sitzen, halb im Liegen im Schlafsack angezogen habe, gab es für mich wieder Porridge zum Frühstück. Leider merkte ich die Schmerzen in meiner Hüfte immernoch. Ich legte mich im Wohnzimmer auf den Boden und dehnte mich ausgiebig, was einige Pilger aufmerksam verfolgten. Dann wurde schnell der Rucksack gepackt (Mit jedem Tag fiel mir das leichter) und los ging es. Diesmal nicht alleine, sondern in einer riesigen Gruppe. Wir gingen durch die schmalen Straßen von Marinhas und hatten alle das selbe Ziel: Kaffee!
Das erste Café lies nicht lang auf sich warten. Dort trafen wir auf weitere Pilger. Die Cafébetreiber hatten nicht mit einem so großen Ansturm gerechnet, daher dauerte es relativ lange. Das war aber nicht schlimm, denn Stress hatten wir nicht. Eine Unterkunft war bereits gebucht, sodass ich keine Angst hatte, kein Bett zu bekommen. Ein wirklich gutes Gefühl. Wir saßen alle draußen im Garten des Cafés und es war eine sehr schöne Atmosphäre. Nach und nach brachen einige Pilger auf, bis nur noch Nici, Sabina, Alice, Ralph und ich übrig waren. Wir gingen zu fünft los und fingen an, uns unterwegs kennenzulernen.
Das Meer würden wir heute nur aus der Ferne sehen, denn tatsächlich führte der Weg hauptsächlich durch Wälder. Als wir im ersten Wald angekommen waren, unterhielten wir uns über den Messer-Typen, der sich wohl irgendwo versteckte. Wir nannten ihn grandpa, weil das irgendwie süß klang und ihn weniger bedrohlich machte. Ich glaube letztendlich war Ralph derjenige, der am meisten Angst vor ihm hatte, weil er immer wieder von dem Thema anfing. Mit Nici unterhielt ich mich darüber, dass er sicherlich der Erste wäre, der weglaufen würde, wenn dieser Kerl auftauchen würde.
Der Weg im Wald war relativ anstrengend, da wir wirklich über Stock und Stein getigert sind und die meiste Zeit ging es bergauf. Glücklicherweise fühlte sich meine Hüfte wie geheilt an. Vielleicht lag es daran, dass der Weg nicht monoton geradeaus ging. So richtig im Genießermodus war ich allerdings nicht, denn selbst wenn ich ausblenden wollte, dass hier irgendwo eine potentielle Gefahr lauert, habe ich doch immer mal wieder nach links und rechts geschaut. Ich wäre sicherlich mit einer ganz anderen Wahrnehmung hier langgegangen, wenn ich alleine gewesen wäre und nichts von grandpa gewusst hätte. Ein wenig ärgerte es mich, dass dieser Gedanke in meinem Kopf war.
Nach einiger Zeit im Wald, kamen wir auf ein Ufer zu. Über einen Fluss führte ein schmaler Weg aus Steinen und es sah wunderschön aus. Wir nutzten die Tatsache, dass wir zu mehreren waren und jeder bekam sein Foto auf dem „Laufsteg“. Nach der kurzen Foto-Pause ging es weiter durch den Wald – bergauf. Ich hatte mich im Vorhinein zu Hause nicht wirklich mit der Route auseinandergesetzt, sodass ich doch ein wenig verwundert war. Ich dachte der Küstenweg würde an der Küste entlangführen und nicht über Berge. Aber irgendwie fand ich es in den Wäldern auch richtig schön. Es war eine tolle Abwechslung zu den Holzstegen, über die ich die letzten Tage gewandert war.
Das Gehen in der Gruppe fing auch an, mir zu gefallen. Wir hatten wirklich Spaß unterwegs und unterhielten uns über Gott und die Welt. Nici und ich stellten fest, dass wir in der selben Branche arbeiten und fast die gleichen Jobs haben.
Nach einiger Zeit führte der Weg aus dem Wald heraus und der Anblick einer Kirche empfing uns. Wir waren sehr erleichtert, denn wir wollten dort die Toilette besuchen. Es gab mehrere Türen, wir probierten jede aus – alle waren zu. So ein Mist. Ich wollte auch unbedingt meine Hose wechseln, denn in der langen Hose war es viel zu warm. Also blieb mir nur eine Möglichkeit. Ich stellte mich ein wenig versteckt vor eine der Kirchentüren und zog mich um. Der Gedanke, mich vor einer Kirche entblößt zu haben, ist mir immer noch ein wenig unangenehm. Der Toilettengang musste für uns alle dann wohl warten. Irgendwie hatte man sich daran aber schon gewöhnt.
Beim Weitergehen fiel uns auf, wie hoch wir eigentlich waren. In einem kleinen Dörfchen entdeckten wir ein Café und machten Pause. Ebenfalls dort waren die Belgier, mit denen ich am Vortrag die lustige Duscherfahrung gemacht hatte. Wir setzten uns zu ihnen. Sie waren gerade dabei, ihre Blasen zu verarzten und begannen sofort einen Wettstreit mit uns, wer die meisten Blasen hatte. Was soll ich sagen, sie haben gewonnen. Meine zwei Blasen waren schon wieder fast verheilt und mehr hatte ich noch nicht bekommen. Und dass, obwohl ich die Schuhe nicht eingelaufen hatte.
Nici und ich snackten den Rest der kalten Pizza vom Vortag und teilten mit den anderen. Ich verteilte noch ein paar Süßigkeiten aus meinem Rucksack und weiter ging es.
Als wir auf eine Mauer zugingen, tauchte da plötzlich der süßeste Esel der Welt auf. Wir blieben stehen und beschäftigten uns eine Weile mit ihm. Er war sehr freundlich. Nach einiger Zeit wurden wir melancholisch, denn unweigerlich mussten wir an unsere Haustiere zu Hause denken. Jeder erzählte, welches Haustier er hatte und wo sie gerade waren. Dann zeigten wir uns noch Fotos der kleinen Lieblinge. Tatsächlich hatte jeder von uns ein Haustier. Ich dachte an meine beiden Hasen, die bei mir zu Hause frei leben dürfen und in diesem Augenblick in einem relativ kleinen Käfig untergebracht waren. Ich wurde traurig, weil ich genau wusste, wie sehr sie es lieben zu springen und zu rennen.
Unsere Haustier-Gedanken wurden unterbrochen, als urplötzlich ein Vogel vor uns auf die Straße fiel. Er starb gerade und wir standen drumherum und wussten nicht, was wir tun sollten. Es war noch ein sehr kleiner Vogel. Wirklich sehr traurig. Aber auch im Leben kann Freud und Leid so nah beieinander sein. Wir setzten den Weg fort und liefen bergauf auf einen weiteren Wald zu. Sabina wollte rein informativ nachschauen, wie viele Kilometer wir noch zu gehen hatten, da entdeckte sie eine kleine Abzweigung, die uns den bergauf-Teil im Wald ersparen würde. Wir stimmten sofort zu und nahmen den flacheren Weg.
Nach diversen weiteren bergauf- und bergab Wegen sahen wir von oben eine Stadt. Es war Viana do Castello. Die Wälder lagen hinter uns und grandpa wurde auch nicht gesichtet.
Bis zur Stadt waren es noch 6 Kilometer. „6 Kilometer? – Dann sind wir ruckzuck da!“, freuten wir uns. Die Wahrnehmung für Entfernungen hatte sich bereits verändert. Zu Hause würde ich mich nicht dazu entscheiden, 6 km mal eben ruckzuck zu meinem Ziel zurückzulegen. Wir waren alle sehr gut drauf und freuten uns, auf unsere private Unterkunft. Ralph und Sabina wollten sich dort auch ein Zimmer nehmen.
In Viana angekommen waren wir total von den Socken. Die Stadt ist relativ groß, aber wunderschön. In den Häusergassen waren Regenschirmdächer angebracht und alles wirkte total schön und freundlich. Auf einem Berg entdeckten wir eine Kirche.
Ich tippte die Adresse der Unterkunft in mein Handy-Navi und fing an, uns dorthin zu leiten. Nach einiger Zeit teilte mir das Navi mit, dass wir wieder umdrehen sollten, weil wir den Eingang schon verpasst hatten. Also drehten wir wieder um und waren plötzlich wieder zu weit. Hier gab es keine Unterkunft und auch nicht die gesuchte Hausnummer. Na super. Wir beschlossen, in einem Stoffgeschäft zu fragen, dass laut Navi die Adresse sein sollte. Lustigerweise war das Stoffgeschäft auch die Rezeption. Das muss man erstmal wissen. Ich fragte also nach unserem Dreierzimmer und die anderen erkundigten sich nach zwei weiteren freien Zimmern. Der Besitzer war verwirrt, denn es standen ihm eindeutig zu viele Personen für zu wenig Zimmer im Geschäft. Er erklärte mir, dass ich falsch gebucht hätte. Das Dreierzimmer habe ich nicht für drei Personen, sondern nur für zwei Personen gebucht. Whooopsi!
Dann folgte allerdings das Knallerangebot: Ich konnte das Zimmer stornieren und der Gastgeber sagte, er hätte noch ein freies Apartment, mit insgesamt 4 Betten. Vom Preis her war es für uns alle günstiger, als die Dreier-oder Zweierzimmer und wir stimmten dem Apartment ungesehen zu. Ein bisschen Risiko muss ja auch dabei sein.
Seine Frau führte uns zu dem Apartment. Wir mussten einige Meter durch die Stadt gehen, mal links und mal rechts abbiegen. Den Weg konnte ich mir nicht merken. In einer Gasse, die wie jede andere Gasse aussah, schloss sie eine Glastür auf und führte uns in das Apartment im Obergeschoss. Dort angekommen fiel uns die Kinnlade herunter. Das war der absolute Traum! Ein Sofa! Vernünftige Betten! Ein richtiges Bad! Handtücher! Bettdecken! Eine Küche! UND eine Waschmaschine! Eindeutig Luxus Pur!
Ralph war total verwundert, dass wir ein Bidet im Badezimmer hatten. Anscheinend hatte er sowas vorher noch nicht so häufig gesehen und fragte uns, ob wir ihm erklären können, wie man das benutzt. Die Erklärung artete in einem Lachflash aus und gehörte definitiv zu den lustigsten Momenten des Tages.
Da man es durchaus ausnutzen sollte, eine Waschmaschine zu haben, haben wir diese natürlich direkt mit unserer Kleidung vollgepackt.
Danach quälte Alice, Ralph und mich ein mächtiges Hungergefühl. Wir gingen los, um unser erstes Pilgermenü zu verspeisen. Pilgermenüs sind Gerichte, die meistens eine Vorspeise, eine Hauptspeise und Kaffee enthalten und für Pilger zu einem günstigen Preis zu erwerben sind. Es war 15 Uhr und viele Küchen schlossen am Nachmittag, sodass wir eins der noch offenen Restaurants wählten.
Wir hatten als Vorspeise Brot und Schinken und zum Hauptgang gab es Schuhsohle mit Pommes, Reis und Salat. Die Schuhsohle sollte eigentlich Rind sein, war aber so dünn und so durchgebraten, dass man es leider wirklich kaum essen konnte … aber wenn man Hunger hat … Hinterher gab es sogar noch ein Stück Kuchen zum Nachtisch.
Nach dem Essen irrten wir ein wenig durch die Gassen, bis wir unseren Hauseingang gefunden hatten.
Wir legten uns auf unsere Betten und ich erzählte den anderen von meinen schlimmen Hüftschmerzen, die ich die Tage davor gehabt hatte. Ralph kannte das Problem und zeigte mir einen Griff an die Hüfte, bei dem ich die Schmerzen wieder sehr stark merkte. Im Anschluss war er aber so nett und hat mich so lange massiert, bis die Schmerzen weg waren und ich mich wie neugeboren fühlte.
Nachdem wir einige Zeit auf dem bequemen Bett herumlagen fiel uns ein, dass unser Mittagessen zwar relativ spät stattfand, wir aber noch ein Abendessen benötigen würden. Also sind Ralph und ich losgegangen, um Brot und Belag für ein kleines Abendessen zu kaufen. Auf dem Rückweg haben wir uns natürlich WIEDER verlaufen und den Eingang zum Apartment verpasst… Nochmal würde ich an diesem Tag nicht rausgehen!
Den Abend verbrachten wir alle zusammen am Esstisch. Wir alle mochten es, gemeinsam in der Gruppe zu gehen. Daher wollten wir auch den nächsten Tag zusammen nach Caminha gehen. Dort gab es eine moderne Herberge, in der man Zimmer bzw. Betten reservieren konnte. Da wir knapp 30km zu absolvieren hatten, reservierten wir uns die Betten, um Sicherheit zu haben und sich unterwegs nicht stressen zu müssen. Und die größte Horrorvorstellung wäre es ja wohl, wenn man sich durch 30km gekämpft hat und dann kein Bett findet. Ich trank noch einen leckeren Sangria aus der Dose und verabschiedete mich ein mein super bequemes, mit Bettdecke versehenes Bett. Was für ein schöner Tag!