Etappe 2: Schmerz
In der Nacht war ich zwischendurch wach, weil ich dachte, dass ich aus dem kleinen Bett rausfalle. Das Laken, auf dem ich mit meinem Schlafsack lag, war sehr rutschig und bei jeder Bewegung dachte ich, dass ich rausrutsche. Das deutsche Pärchen hat um 4.50 Uhr den Schlafsaal verlassen. Viel zu früh, stellte ich fest und schlief weiter. Um 6 Uhr vibrierte der Wecker meines Fitbits. Ich öffnete langsam die Augen und nahm die Ohropax raus und drehte mich und dann … Schock … es sind schon alle weg… was?? Ich konnte es nicht glauben und musste meine Brille aufsetzen, um nochmal genau nachzuschauen. Tatsächlich, es ist 6 Uhr morgens und alle sind schon weg. Ist das hier ein Wettrennen, oder was?
Ich habe mir meine Zeit genommen und sogar noch einen Joghurt gefrühstückt. Nach der Prozedur des Rucksack-Packens bin ich dann losgegangen. Zuerst wieder zurück zum Jakobsweg, der auch heute am Meer entlangführte. Die ersten Kilometer über habe ich einige Pilger vor mir gesehen. Irgendwie ein sicheres Gefühl, wenn man die anderen zumindest sieht. Wobei der Weg hier auch schon sehr gut mit Pfeilen bestückt war, sodass man (eigentlich) keinen Pfeil verpassen dürfte.
Die Schmerzen in meinen Beinen waren noch immer da. Bei jedem Schritt wurde es schlimmer. Ich wusste nicht, ob es nur ein starker Muskelkater war, oder doch etwas Ernsteres. Ich bin einfach immer weitergegangen und habe versucht, es zu ignorieren. Jedoch kamen irgendwann Schmerzen in der Hüfte dazu. Diese Schmerzen bedingten, dass ich mein rechtes Bein kaum anheben konnte. Ich überlegte, woher die Schmerzen kamen. Ich dachte, dass der Rucksack zu schwer war. Denn auch mein Nacken begann tierisch weh zu tun und sich zu verspannen, sodass ich auch noch Kopfschmerzen bekam! Und als wäre das nicht schon alles schlimm genug, hatte ich noch nicht mal ein offenes Restaurant oder Café gefunden, um den ersten Kaffee des Tages zu trinken. Der Weg war, genau wie gestern auch, sehr schön. Zeitweise war ich komplett alleine und habe weit und breit keine Menschenseele gesehen. Leider waren die Schmerzen zu präsent, sodass ich den Weg nicht richtig wahrnehmen konnte.
In der Ferne sah ich ein Gebäude mit einer Terrasse und Fahnen und dachte: „Yes! Endlich Kaffee trinken und Pipi machen!“ Denn so langsam musste ich doch recht nötig auf Toilette. Als ich näher kam, sah ich, dass es noch geschlossen war. Mist! Ich sprach einen Mann an, der die Straße säuberte und fragte, ob er wüsste wo ein Café oder Ähnliches war, um auf Toilette zu gehen. Er sagte, dass da erstmal nichts kommt, klopfte aber bei dem Restaurant an die Tür der Küche und sprach dort mit Mitarbeitern.
Die Küchenmitarbeiter winkten mich zu sich heran und ließen mich auf die Küchentoilette gehen! Das war so nett und ich war sehr dankbar dafür. Nach der Küchentoiletten-Erfahrung beschloss ich, mich auf der Strandpromenade ein wenig auszuruhen und zu frühstücken. Ich hatte vom Supermarkt in Labruge noch eine Banane und einen Apfel. Ein Pilger kam an mir vorbei. Es war einer von denen, die gestern bei der Herberge abgewiesen wurden, weil alle Betten belegt waren. Er sah nicht so aus, als hätte er auf der Straße oder am Strand schlafen müssen und irgendwie war ich froh, dass er noch eine Unterkunft gefunden hatte.
Eine weitere Pilgerin kam vorbei und fragte mich, ob ich ihr helfen könne, ihr das Wasser aus ihrem Rucksack zu geben. Natürlich tat ich das und wir unterhielten uns kurz. Nachdem sie weitergegangen war dachte ich, dass ich nun auch besser weitergehen sollte. Ich stand auf und mein Körper fühlte sich an wie Stein. Oder eingerostet. Oder einfach irgendwie kaputt. Ich konnte kaum einen Fuß vor den anderen setzen. Die Pause hatte meinen Schmerzen scheinbar nicht gutgetan. Ich nahm eine Ibuprofen und hoffte, dass das zumindest gegen die Kopfschmerzen helfen würde. Während ich weiterging fiel mir ein, dass es eine Dehnübung gibt, die Blockaden in der Hüfte lösen kann. Ich begann zu googlen und fand heraus, dass sie „die Taube“ heißt. Man muss sich dafür auf den Boden stützen, ein Bein auf Armhöhe anwinkeln, „die rechte Ferse ist nahe beim linken Hüftknochen…“, das andere Bein nach hinten ausstrecken und dann den Oberkörper in verschiedene Richtungen bewegen. Ein Versuch ist es wert dachte ich und legte mich komisch auf die Straße. Mir war egal, wie das aussah, ich wollte einfach, dass die Schmerzen aufhörten. Leider hat die Dehnübung nichts gebracht, sodass ich wohl oder übel weiterhumpeln musste.
Ich versuchte mich mit Musik von meiner Camino-Spotify Playlist abzulenken, als mich ein Mann einholte. Er fragte, wo ich hinwolle und ich sagte „Santiago!“. Er schaute mich bewundernd an und sagte, dass das ja noch eine Weile dauern würde, bis ich dort ankommen werde. Haha, ja! Aber hey, der Weg ist das Ziel … Ich unterhielt mich ein wenig mit ihm, bis er weiterging und mir zum Abschied den Kopf tätschelte … wie süß …
Danach erreichte ich den ersten Wegweiser nach Santiago! Nur noch 212km! (Darin inbegriffen sind allerdings nicht die zwei Extra-Tage, die der Küstenweg veranschlagt, das wusste ich zu dem Zeitpunkt aber nicht.)
Die gelben Pfeile sagten mir, dass ich einen Weg einschlagen sollte, der vom Meer weg und direkt in die nächste Stadt Vila do Conde führte. In dieser Stadt angekommen, erlebte ich einen Kulturschock. Nach meiner Idylle am Meer, musste ich hier nun direkt neben der Straße entlang gehen. Es war voll und laut und irgendwie auch viel wärmer, als am Meer. Ich checkte immer wieder meine Buen Camino App und hoffte, bald an meinem Ziel Povoa, anzukommen. Vor einer Kirche machte ich eine kurze Pause, um mich wieder zu dehnen. Sicherlich hätte ich auch hier für einen Kaffee oder etwas zu essen halten können, aber aufgrund der Schmerzen hatte ich keine Lust darauf und ging einfach weiter.
Irgendwann kam ich vor einem Café zum Stehen. Es sah nicht gerade mega gut aus und Gäste waren auch keine dort, aber ich hatte beschlossen, dass ich nun endlich einen Kaffee brauchte. Ein Blick in meine App verriet: Yay! Ich bin in Povoa! Ein Glück. Verwundert war ich nur, dass es erst mittags war. Anscheinend hatte ich trotz der Schmerzen die 17 km in einem einen strammen Schritt absolviert. Der Kaffee tat unglaublich gut. Mein Plan war es, die Herberge zu suchen, dann etwas zu essen und dann den Rest des Tages am Strand zu verbringen und mich auszuruhen.
Als ich mit Google Maps auf meinem Handy durch Povoa lief, kam direkt eine Frau auf mich zu und fragte, ob ich mich verlaufen hätte. Die Menschen sind einfach so herzlich hier! Sie gab mir außerdem noch Tipps, wo ich günstiges Wasser kaufen konnte.
In der Herberge angekommen, sah ich einen weiteren Pilger vor dem Empfang sitzen. Er sprach kein Englisch, hat mir aber versucht zu erklären, dass die Herberge noch nicht geöffnet war. Ich war am Verhungern und musste meinen viel zu schweren Rucksack wieder aufsetzen, da ich unbedingt etwas essen musste. Ich erreichte die Strandpromenade und ging an einigen Restaurants vorbei, nur um dann wieder zum ersten Restaurant zurückzugehen, weil mir die anderen nicht gefielen. Dort angekommen sah ich eine Gruppe von Pilgern, die wild am winken waren und hallo gerufen haben. Ich war verwirrt. Meinen die mich? Oder ist das eine von diesen Situationen, bei der man denkt, man sei gemeint, dann zurückwinkt, schließlich aber feststellt, dass jemand anderes gemeint war. Als eine Frau aus der Gruppe sogar meinen Namen rief war ich dann ganz verwirrt und fragte, woher sie mich kennen. „Wir kennen dich aus der Facebook-Gruppe!“ Ach na klar! Jetzt kam mir das Gesicht auch bekannt vor! Das sind die beiden Mädels, von denen ich dachte, sie hätten im Flugzeug hinter mir gesessen. „Wir haben dich im Flugzeug gesehen, da bist du auf Toilette gegangen, dann haben wir dich in Porto in die Metro einsteigen sehen und eben haben wir gesehen, wie du hier dran vorbeigegangen bist!“ Wow! Muss wohl an meinem auffälligen Rucksack liegen, dachte ich. Die Mädels wollten noch weiter in den nächsten Ort und fragten, ob ich mitkomme, aber meine Schmerzen sagten eindeutig „NEIN!“. Sie gingen also weiter und ich aß mein Sandwich. Danach ging es zum Einchecken in die Herberge zurück. Auch diese Herberge finanzierte sich aus Spenden. Der Hospitalero teilte mir ein Zimmer im Obergeschoss zu. Als ich reinkam, hatte ich noch die freie Bettwahl, denn ich war die Erste. Ich wählte ein Bett an einer Wand, direkt neben einem Fenster aus. Irgendwie gewöhnungsbedürftig diese Betten. Sowohl Matratze als auch Kissen hatten einen Gummibezug, auf den man sich dann mit seinem Schlafsack legen sollte. Laken gab es nicht. Zum Glück hatte ich ein aufblasbares Kissen dabei.
Da sowieso noch niemand in der Herberge war, habe ich mir meine Bade-Birkis geschnappt und bin ab zum Strand gehumpelt. Es war leider übertrieben windig und kalt. Mit Sommer hatte das Wetter nicht viel gemeinsam. Ich trank dann noch einen sehr leckeren, großen Kaffee und ging in den Supermarkt. Heute wollte ich in der Herberge Nudeln kochen. Das Einkaufen in Portugal ist wirklich sehr günstig. Da mich nach dem Einkauf direkt der Hunger plagte, beschloss ich, zu kochen. Es war wirklich praktisch, dass in der Herberge alles Nötige vorhanden war. Beim Essen haben sich die zwei deutschen Mädchen zu mir gesetzt, die ich schon von der Herberge in Labruge kannte. Die beiden waren gerade mal 18 Jahre alt. Sie hatten ihr Abitur gemacht und sind dann gemeinsam auf den Jakobsweg. Weitere bekannte Gesichter vom Vortrag waren Paul und seine Frau aus Kanada. Ich verbrachte einige Zeit mit Ihnen, ehe ich zu meiner Dusch- und Waschroutine überging. Denn eins war mir schon vorher klar: Auf dem Jakobsweg ist jeden Tag Waschtag. Nur so hatte man am darauffolgenden Tag ein sauberes T-Shirt.
Meine zwei Blasen am Fuß waren noch immer da, also entschied ich mich dazu, Blasenpflaster zu verwenden. Damit die Pflaster nicht verrutschten, habe ich sie mit Tape festgeklebt! Ich bewundere mich auch jetzt noch für diesen schlauen Einfall. Nachdem ich mich verarztet hatte, öffnete ich mir ein Bier und schrieb auf meinem Bett Tagebuch. In meinem Zimmer war bisher bloß ein weiteres Bett von einer anderen Frau belegt. Und zwar von Alice aus Mailand.
Ich befasste mich an diesem Abend außerdem noch damit, meinen Rucksack auszusortieren, damit ich es ein wenig leichter auf dem Rücken hatte. Viel habe ich nicht mehr gefunden, was ich wegschmeißen konnte, aber eine kleine Cremedose und einige Süßigkeiten mussten dran glaube. Als ich schon fast bereit fürs Bett war, kam tatsächlich noch ein weiterer Pilger rein. Er sah asiatisch aus. Sein Rucksack war schrecklich vollgestopft. Er suchte sich das Bett vor mir aus und fing direkt an, sich mit mir zu unterhalten. Er fragte, wo ich herkomme, was ich beruflich mache und warum ich den Jakobsweg gehe. Er zeigte mir auch relativ schnell seine Blasen unter den Füßen … Das musste nicht unbedingt sein … Dann holte er eine Karte raus und fragte, ob ich mit ihm Essen gehen möchte. Ich lehnte ab, da ich einfach nur noch schlafen wollte. Er wollte nämlich auch unbedingt ins Casino gehen.
Ich schrieb in mein Tagebuch, dass ich ihn merkwürdig finde, dass sein Name Ralph lautet und dass er aus Amerika kommt. (Kleiner Spoiler: Ralph wird im Verlauf des Jakobswegs noch relativ wichtig für mich). Weil ich ihn so merkwürdig fand, entschied ich mich dazu, mit Kontaktlinsen zu schlafen und keine Ohropax zu benutzen. Sicher ist sicher, so bekomme ich wenigstens mit, wenn er ins Bett geht (oder mich angreift).
Ein Kommentar
Gundel Kriwet
Schade, die 2. Etappe habe ich auch schon zu Ende gelesen und nun bin ich begierig darauf zu erfahren, wie es weitergeht! Ich muss schon sagen: Kompliment und alle Achtung, dass du dir das zugetraut hast!
Liebe Grüße